Erkenntnisse > Die folgenden Fragen leiten Sie dazu an, die Analyse formaler und inhaltlicher Elemente zu einer Synthese zusammenzuführen.

Erläutern Sie das Zusammenspiel von Form und Inhalt am Beispiel der Verse 1-4.

Die Verse 1-4 weisen in Reim (abab), Vers (4+6/8/4+6/8), Syntax und Semantik eine parallele Struktur auf. Die Antagonisten der Fabel werden in Vers 1 und 3 mit dem Titel „Maître“, der auf einen bürgerlichen Beruf verweist, angesprochen, auf den der Gattungsname „Corbeau“ bzw. „Renard“, der zum Familiennamen wird, folgt. Es schließt mit „sur un arbre perché“ und „par l’odeur alléché“ jeweils eine Partizipialkonstruktion in poetischer Inversion an. Der Parallelismus setzt sich in der Wiederholung des Verbs „tenir“ und den Reim der Susbtantive auf -age fort. Differenzen ergeben sich aus den verwendeten Tempora, Imparfait („tenait“) zur Beschreibung eines Zustands in Vers 2, Passé simple („tint“) zur Darstellung einer Aktion in Vers 4, sowie den unterschiedlichen Ergänzungen in Form des materiellen Käses („tenir un fromage“) und der Fähigkeit zu sprechen („tenir un langage“). In der Struktur treten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Protagonisten hervor: Fuchs und Rabe gehören derselben Gesellschaftsschicht an, verfügen aber über unterschiedliche Ressourcen und Qualitäten: Der Rabe nimmt eine erhöhte Position im Raum ein und verfügt über die Nahrungsressource „Käse“, die ihm Macht verleiht. Der Fuchs hingegen ist zunächst in einer unterlegenen Position: Er befindet sich – hungrig, aber ohne Nahrung – am Boden. Im Unterschied zum Raben besitzt er jedoch ein Sprachvermögen, das es ihm ermöglichen wird, seine Situation zu ändern und in den Besitz eines Käses zu gelangen.

Analysieren Sie die Schmeichelrede und die Lektion des Fuchses. Vergleichen Sie beide Reden miteinander.

In seiner ersten Rede schmeichelt der Fuchs dem Raben in drei Aspekten: 1) im Hinblick auf die gesellschaftliche Stellung durch Erhebung in den Adelsstand („Monsieur du Corbeau“, V. 5), 2) im Hinblick auf die Schönheit des Gefieders, 3) in der Möglichkeit, sein Gesangstalent unter Beweis zu stellen. Allen drei Aspekten ist das Hervortreten individueller Qualität und damit das Heraustreten aus der Allgemeinheit, aus der Gattung „Rabe“ inhärent. Die Schmeichelei findet ihren Höhepunkt in dem vom Fuchs in Aussicht gestellten Vergleich des Raben mit dem mythischen Phoenix, den übernatürliche Schönheit von Gefieder und Gesang sowie seine Unsterblichkeit auszeichnen und der als der einzige Vertreter seiner Art absolute Individualität verkörpert. Die Schmeichelei ist deshalb erfolgreich, weil der Fuchs ein Bild des Raben entwirft, das dieser nur allzu gerne annehmen möchte.
Bei einer genaueren Analyse der Schmeichelrede fällt jedoch auf, dass der Fuchs mit Mehrdeutigkeiten spielt (siehe Inhalt, Frage 6). Im Spiel mit Ambivalenzen bricht die Fassade der flatterie in kurzen Moment auf und lässt die Möglichkeit einer Differenz von Sein und Schein bzw. die Möglichkeit der Lüge – so in Behauptung „sans mentir“ (V. 6) – hervortreten.
Die Lektion der Fabel wird gesprochen, als sich die Machtverhältnisse zwischen Fuchs und Rabe verkehrt haben, da der Fuchs inzwischen im Besitz des Käses ist. Der Fuchs lässt nun die Maske fallen und gibt sich offen als flatteur zu erkennen. Er verändert die Anredeform des Raben vom nobilitierenden „Monsieur du corbeau“ in das aus einer überlegenen Stellung in herablassender Absicht gesprochene „Mon bon Monsieur“. Der Imperativ „Apprenez“ (V. 14) und die Charakterisierung der Rede als „leçon“ (V. 16) zeigen, dass sich der Fuchs in die Position des Lehrmeisters begibt. Er ordnet das Geschehen dem Phänomen der flatterie ein und formuliert eine allgemeine Regel, wonach der Schmeichler auf Kosten desjenigen lebe, der ihm Gehör schenkt. Der Fuchs beschließt die Lektion mit der Feststellung von deren ökonomischem Wert: Das Offenlegen der Mechanismen von flatterie hat seinen Preis. Die Lektion und ihr Preis fallen jedoch auf problematische Weise zusammen: Der Rabe hat nicht die Wahl, ob er belehrt werden will oder nicht, und als er die Vorgehensweise des flatteur versteht, hat er den Preis bereits bezahlt.

Problematisieren Sie die Moral der Fabel.

Die Besonderheit der Moral liegt darin, dass sie nicht vom Erzähler, sondern vom Fuchs in Form einer Lektion gesprochen wird. Der Fuchs ist durch die Ambivalenz intellektueller Überlegenheit auf der einen Seite – er durchschaut den Charakter des Raben und dessen Empfänglichkeit für Schmeichelei und er verfügt über großes rhetorisches Geschick – und seine amoralische Handlungsstrategie in Form der heuchlerischen Schmeichelrede andererseits gekennzeichnet. Die Moral der Fabel wird somit nicht aus einer Position der Tugendhaftigkeit, sondern der listigen Klugheit gesprochen.

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