Fragen zum Inhalt > Mit Hilfe der folgenden Fragen wollen wir inhaltliche Aspekte des Textes klären. Unsere Fragen beginnen mit einfachen Inhaltselementen und steigern sich sodann in ihrer Komplexität.

Fassen Sie den Inhalt der Fabel kurz zusammen.

Ein Rabe hockt in der Höhe, auf einem Ast im Baum und hält ein Stück Käse in seinem Schnabel. Ein Fuchs wird vom Duft des Käses angelockt. Er hält dem Raben eine Schmeichelrede, wertet ihn in der gesellschaftlichen Hierarchie auf, preist die vermeintliche Schönheit des Vogels und verführt ihn schließlich dazu, eine Probe seiner Gesangskünste zu geben, die ihn zum Phoenix der Waldbewohner machen könnten.

Der Rabe schenkt der Schmeichelei glauben, öffnet seinen Schnabel, um zu singen, und verliert auf diese Weise den Käse. Der Fuchs schnappt ihn auf und formuliert die Moral der Fabel: Der Rabe möge lernen, dass jeder Schmeichler auf Kosten desjenigen lebe, der ihm zuhört und glaubt. Diese Lektion sei wohl einen Käse wert. Beschämt und verwirrt bleibt der Rabe zurück und schwört sich, in Zukunft nicht mehr auf Schmeichler hereinzufallen.

Charakterisieren Sie die beiden Fabeltiere.

Die beiden Fabeltiere entsprechen in ihren grundlegenden Charaktereigenschaften der Fabeltradition (siehe Wissen & Tradition). Der Rabe ist durch seine Eitelkeit und Leichtgläubigkeit, der Fuchs durch seine Listigkeit gekennzeichnet. Aktualisiert wird die Zuschreibung allgemeiner Wesenszüge durch die Einbettung in gesellschaftliche Zusammenhänge: Wie die Anrede „Maître“ zeigt, gehören beide Tiere einem bürgerlichen Milieu an, ein Aspekt der Schmeichelei des Fuchses liegt darin, den Raben in den Adelsstand zu erheben. Damit ist auf die französische Gesellschaft im 17. Jahrhundert und insbesondere auf die Ambitionen des Bürgertums, in den Adelsstand aufzusteigen, verwiesen. Weiterhin fällt auf, dass sich die listige Überlegenheit des Fuchses – stärker als aus der Gattungstradition bekannt – in seiner differenzierten Sprachbeherrschung zeigt.

Beschreiben Sie räumliche Strukturen und Bewegungsmuster in der Fabel.

Die Antagonisten sind – obgleich sie gesellschaftlich auf einer Stufe stehen, beide gehören als „maître“ dem Bürgertum an – hierarchisch positioniert: Der Rabe hockt auf dem Baum, er verfügt mit dem Käse über eine Nahrungsressource, die ihn in eine übergeordnete Stellung versetzt. Der Duft des Käses verbreitet sich von oben nach unten und lockt den Fuchs, der sich am Boden befindet, an. Sein Mangel an Besitz versetzt ihn in einen niederen Rang. Seine Sprachmacht allerdings bewirkt eine Veränderung in der räumlichen und hierarchischen Struktur: Zwar ist die Schmeichelrede zunächst Ausdruck der niederen Stellung des flatteur, doch hat sie zur Folge, dass die Nahrung nach unten, dem Fuchs in die Hände fällt. Damit verfügt der Fuchs nun neben der Sprachmacht auch über materielle Macht. Der Besitz des Käses verändert den Inhalt seiner Rede: Statt zu schmeicheln, kann er eine Lektion erteilen, die über den Zusammenhang von Schmeichelei und materieller Vorteilsnahme aufklärt.

Verfolgen Sie die Entwicklung des Raben in den Anredeformen.

Der Erzähler tituliert den Raben als „Maître Corbeau“ (V.1) und ordnet ihn – wie auch den Fuchs – einem bürgerlichen Milieu zu. Der Fuchs hingegen spricht den Raben mit „Monsieur du Corbeau“ (V.5) an und erhebt ihn so zum Auftakt der Schmeichelrede in den Adelsstand. Dass er dabei „du“ statt „de“ als Adelsprädikat verwendet, ist, wie Louis Marin (Marin 1981, S. 120) erhellend ausführt, ein rhetorischer Schachzug des Fuchses: Der Teilungsartikel „du“ weist auf die Abstammung des Raben („Herr vom Raben“) hin und zeigt, dass der Rabe keinen Eigennamen besitzt. Ohne die Ansprache und Nobilitierung durch den Fuchs würde er in die Allgemeinheit der Gattung „Rabe“ zurückfallen.

Nachdem die List gelungen ist und der Rabe den Käse verloren hat, spricht der Fuchs ihn erneut an. Aus der Apostrophe „Mon bon Monsieur“ (V. 13) geht die Herablassung des Betrügers gegenüber dem Betrogenen hervor. Der folgende Imperativ „Apprenez“ zeigt, dass sich die Rollen verkehrt haben: Der Schmeichler lässt die Maske fallen und stellt seine Strategie offen zur Schau. Der Besitz von sprachlicher und materieller Macht versetzt ihn in eine überlegene Position, aus der heraus er dem Raben eine Lektion erteilen kann.

Aus welchen Elementen besteht die Schmeichelrede des Fuchses?

Der Fuchs schmeichelt dem Raben zunächst auf gesellschaftlicher Ebene: Er erhebt den Vogel, der, wie der Titel „Maître“ verrät, einem bürgerlichen Milieu angehört, in den Adelsstand, als er ihn mit „Monsieur du Corbeau“ anspricht.

Als nächstes preist er die Schönheit des Raben. Eine Entsprechung von Gefieder und Stimme würde den Raben, so stellt der Fuchs schließlich in Aussicht, zum Phoenix der Waldbewohner machen. In dem Bild des mythischen Vogels verbinden sich Schönheit, Einzigartigkeit und Unsterblichkeit, Eigenschaften, die dem Raben als anonymem Mitglied einer – nicht besonders schönen – Vogelgattung tatsächlich nicht zukommen.

Finden Sie Zweideutigkeiten in der Rede des Fuchses.

Die Schmeichelrede des Fuchses enthält Hinweise, die die Aufrichtigkeit der Komplimente fraglich erscheinen lassen. Zwar adelt der Fuchs den Raben in der Anredeform „Monsieur du Corbeau“ (siehe Frage 4), jedoch verwendet er statt des Adelsprädikats „de“ den Teilungsartikel „du“, weist damit auf die Abstammung des Raben („Herr vom Raben“) und dessen fehlenden Eigennamen hin. Um nicht in die Anonymität der Gattung zurückzufallen, ist der Rabe auf die Schmeichelrede des Fuchses angewiesen. Die Ausrufe in Vers 5 „Que vous êtes joli! Que vous me semblez beau!“ loben den Raben als „joli“ („hübsch“), ja sogar „beau“ („schön“). Während jedoch die schwächere Auszeichnung „hübsch“ mit dem Verb „être“ verbunden ist, wird die dadurch ausgedrückte Gewissheit im zweiten Halbvers durch das Verb „sembler“ und die Bezugnahme auf einen subjektiven Betrachter („vous me semblez“) zurückgenommen und auf die Ebene des Scheins herabgesetzt.

Der vom Fuchs hergestellte Zusammenhang zwischen (vermeintlich) schönem Gefieder und schönem Gesang, der in den Vergleich mit dem mythischen Phoenix mündet, soll den Raben dazu herausfordern, zu singen und auf diese Weise den Käse zu verlieren. Um als Phoenix des Waldes gelten zu können, muss er die Schönheit seines Gesangs unter Beweis stellen. Der Konditionalsatz, der die Herausforderung auf scheinbar schmeichelnde Weise zum Ausdruck bringt, spielt mit Mehrdeutigkeiten. Die Bekräftigung, aufrichtig zu sprechen („sans mentir“), weist direkt auf die Möglichkeit der Lüge, die der Sprache inhärent ist, hin. Das Verb „se rapporter“ formuliert zwar einen Zusammenhang zwischen Gefieder und Gesang, welcher das ist, bleibt jedoch offen. Die Vergleichbarkeit muss also keineswegs in der Schönheit liegen, sie kann auf das Unscheinbare oder Hässliche zielen. Das schwarze – und nicht etwa farbenfrohe – Federkleid des Raben entspricht dessen Krächzen. In der durch das Verb „se rapporter“ hergestellten Offenheit des Vergleichs spricht der Fuchs also tatsächlich „sans mentir“.

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