Fragen zur Form > Die Interpretation des Textes ist in drei Schritte eingeteilt. Wir gehen vom Einfachen zum Komplexeren. Zunächst stellen wir einige Fragen zu formalen Aspekten.

Bestimmen Sie die Gedichtform!

Es handelt sich um ein Sonett.

Bestimmen Sie die Versform!

Der Vers besteht jeweils aus 12 Silben. Es handelt sich um einen Alexandriner (l’alexandrin, n.m.). Oft teilt sich der Vers in zwei Hälften. Das Hemistichon (Vershälfte) besteht aus 6 Silben, danach folgt eine Zäsur, es folgt das zweite Hemistichon.
Die Versform des Alexandriners gehört zum hohen Sprechen. In Alexandrinern dichtet Pierre de Ronsard im 16. Jahrhundert Liebesgedichte, Tragödienverse im 17. Jahrhundert schreibt Jean Racine in dieser Versform.

Folgende Regeln gelten für die Reimzählung:
Die in der Umgangssprache nicht gesprochenen e-Vokale (e caduc), werden in der Verssprache gesprochen und auch gezählt. Ausnahme: das Versende!
Am Versende bildet ein unbetontes e einen weiblichen Reim (rime féminine).

Vokale an den Wortgrenzen werden verschliffen und als eine Silbe gezählt (e-as) (e au). Stoßen zwei Vokale, die man nicht elidieren (also zusammenziehen) kann, aufeinander, spricht man von einem Hiat (l’hiatus).
Vokale im Wortinneren können entweder als ein Vokal ausgesprochen werden (Synärese) oder sie werden getrennt als zwei Vokale gesprochen und gezählt (Diärese).

Schematische Darstellung der Silben:
La rue a-ssour-di-ssan-te-au-tour de moi hur-lait.
Lon-gue, min-ce, en grand deuil,/ dou-leur ma-jes-tu-eu-se,
U-ne fem-me pas-sa, / d’un-e main fas-tu-eu-se
Sou-le-vant, ba-lan-çant / le fes-ton et l’our-let; […].

Bestimmen Sie das Reimschema und die Reimfülle!

Folgende Wörter reimen sich in der Abfolge. Sie bilden ein Reimschema und eine Reimfülle aus. Die Reimentsprechungen bezeichnet man mit Buchstaben (in der Folge des Alphabets), die Reimfülle ergibt sich aus dem Reichtum der Töne (d.h. der Konsonanten und Vokale), die miteinander reimen. Es ergibt sich folgende Aufteilung:

A  hurlait | rime riche | m
B  majestueuse | rime léonine (double) | f 
B  fastueuse | rime léonine (double) | f
A  ourlet | rime riche | m

C  statue | rime riche  | f
D  extravagant | rime léonine (double) | m
D  ouragan | rime léonine (double) | m
C  tue | rime riche | f

E  beauté | rime riche | m
F  renaître | rime suffisante | f 
E  éternité | rime riche | m

F  peut-être | rime suffisante | f 
G  vais | rime riche | m
G  savais | rime riche | m

Wie erkennt man die Reimfülle?

Zunächst ist wichtig, die Silbe festzustellen, die am Ende des Verses betont wird. Für das Wort „hurlait“ ist das einfach, nämlich die zweite Silbe.
Für das Wort „majestueuse“ ist zu beachten, dass die Silbe „se“ nicht betont wird. Hier liegt also kein Wortakzent, sondern der Hauptakzent liegt auf „tu“, dann ein Nebenakzent auf „eu“. Ebenso liegt der Wortakzent in „re-naît-re“ und „peut-êt-re“ nicht auf der Endsilbe. Diese ist wiederum unbetont, es handelt sich um eine „rime féminine“, also unbetonter E-Vokal.

rime riche
Im Reim hurlait und ourlet liegt eine riche rime (ein reicher Reim) vor. Hier reimen der vorangehende Konsonant ‚l‘ und der folgende Vokal (ait/et), es reimt also der Laut: lɛ Bei der Folge von Stützkonsonant und Vokal liegt eine rime riche vor.


rime léonine

Im Reim majestueuse und fastueuse liegt eine rime léonine vor. Hier reimen ein Vokal ein Stützkonsonant ‚t‘ und ein weiterer Vokal. Bei der Folge von Vokal, Stützkonsonant und Vokal spricht man von einer rime léonine.


rime suffisante

Eine rime suffisante beschränkt sich auf die Abfolge von Vokal und Konsonant. Bei einer rime pauvre reimt nur der Vokal, dieser Reimtypus findet sich in unserem Gedicht nicht.


rime pauvre
Bei einer rime pauvre reimen lediglich die Vokale aufeinander. In unserem Gedicht haben wir dafür kein Beispiel.

Was sind die typischen Merkmale eines Sonetts? Worin unterscheidet sich das vorliegende Sonett von der klassischen Form?

Gegenüber der traditionellen Sonettform fällt hier folgende Abweichung auf: Bereits der erste Vers formt einen abgeschlossenen Satz, während in der klassischen Sonettform die erste Strophe, das Quartett (le quatrain), oder auch die ersten beiden Quartette jeweils einen oder insgesamt einen Satz bilden.

Der Satzabschluss des ersten Quartett endet erst im zweiten Quartett, in Vers 5. Der erste Vers (und damit der erste Satz) bildet die Eröffnung und den Rahmen für das Geschehen. Das erste Quartett und Vers 5 bilden einen Satz, der die Frauenerscheinung evoziert.

Traditionell wiederholt sich ein identisches Reimschema im ersten und im zweiten Quartett. Man hat es also mit der Folge ABBA ABBA zu tun, wodurch die Quartette eng in formaler Hinsicht miteinander verbunden sind, so dass auch der inhaltliche Zusammenhang unterstrichen wird. In unserem Sonett sind das erste und das zweite Quartett in der Reimstruktur unterschiedlich. Der Zusammenhalt ist durch den die Strophengrenzen überschreitenden Satz, der erst in der zweiten Strophe endet, unterstützt.

Impressum © 2016-2024 Prof. Dr. Karin Westerwelle & Dr. Pia Claudia Doering, Romanisches Seminar der WWU Münster Datenschutzhinweis