Fragen zum Inhalt > Mit Hilfe der folgenden Fragen wollen wir inhaltliche Aspekte des Textes klären. Unsere Fragen beginnen mit einfachen Inhaltselementen und steigern sich sodann in ihrer Komplexität.

Was gefällt Ihnen an diesem Gedicht? Was finden Sie schön?

Schön ist die besondere Bewegung und der Schwung der Passantin. Ihr Gehen ist auch durch die Bewegung ihrer Kleidung sehr plastisch figuriert.
Schön ist der Blick in die Augen als Liebesblick.
Schön ist auch die Vertiefung des Liebesblicks. Die Augen erscheinen wie ein Himmel mit Gewitterfront.

Beschreiben Sie die Situation und das Geschehen, das im Gedicht dargestellt ist. Versuchen Sie, die Begegnung mit wenigen Sätzen zu erfassen! Schreiben Sie diese auf!

Es handelt sich um eine Begegnung mit einer unbekannten Frau. Der Ort der Handlung ist die Straße, auf der sich die vorübergehende Frau, die Passantin, bewegt. Sie trägt Trauerkleidung, die Art und Weise ihres Gehens ist besonders hervorgehoben. Offensichtlich beherrscht starker Lärm die Szene. Das Geschehen steigert sich, weil plötzlich ein Blick in die Augen der schönen Passantin stattfindet. Der Liebesblick in die Augen ist sehr stark hervorgehoben: Er ist wie das Sehen eines Unwetters, was sich zusammenbraut und sich im Blitz entlädt. Zum Schluss finden sich viele Wörter, die Zeit beschreiben. Die Liebesbegegnung zwischen dem Sprecher und der Passantin wäre wohl möglich gewesen, aber sie findet nur als einmalige, plötzliche, flüchtige Liebesbegegnung statt und hält nicht als dauerhafte Liebe an.

Wo befindet sich der Sprecher? Welche Situation stellt er dar? Aus welcher räumlichen Perspektive nimmt der Sprecher das Geschehen wahr?

Der erste Vers eröffnet eine Szene in städtischer Welt. Das Sprecher-Ich (= das lyrische Ich) befindet sich mitten in der Geräuschkulisse der Straße. Der Lärm brandet an ihn heran. Von einer „rue“, nicht von einem Boulevard, den breiteren, prachtvollen Straßen ist die Rede. Gerade weil es so laut ist, ergibt sich eine Vereinzelung des Beobachters.
Es wird nicht genau gesagt, wo sich der Sprecher befindet. Ist er inmitten des Lärms? Oder nimmt er von einer höheren Perspektive aus das Geschehen wahr? Jedenfalls steht er im Lärm wie in einem Kreis um ihn herum.

Mit welchen Gegensätzen arbeitet das Gedicht? Stellen Sie die einzelnen Elemente in einer Liste zusammen! Erläutern Sie die Kontraste!

Agile  <--->  jambe de statue
Passa  <--->  jambe de statue
La rue  <--->  moi, je buvais
Crispé  <--->  extravagant
Facine  <--->  tue
Eclair  <--->  nuit
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Auffällig ist der Kontrast zwischen dem beweglichen Bein („agile“, „passa“) und der Vorstellung des Statuenbeins. Marmor ist nicht beweglich! Das Bein verwandelt sich in Stein, in eine Statuenform. Die Bewegung kommt unerwartet zum Stillstand. Von der Flüchtigkeit und Leichtigkeit verwandelt sich die Bewegung in Erstarrung. Das Bein steht nunmehr in einer Form still, die niemals wieder in Bewegung kommen kann und auch, als Statuenbein, niemals in Bewegung war.

Im Raum der Straße tritt das Sprecher-Ich als eine singuläre, besondere Instanz, als ein „Moi, je“ hervor. Es erscheint im „Moi, je“ derart herausgehoben, so als gäbe es keine anderen Menschen, die an dem teilhätten, was das Sprecher-Ich sieht.

Grammatikalisch ist das Ich besonders hervorgehoben. Es handelt sich um ein Ich, das sich als „moi“ sieht und beobachtet, es ist krampfhaft körperlich angespannt, beinahe verzückt. Es beobachtet sich selbst in diesem sonderbaren Zustand und sagt von sich, dass es außer sich ist. Ein „extravagant“ ist auch ein räumlich und örtlich entgrenztes Subjekt. Es irrt im Raum umher. Die Ursache für diese Entgrenzung liegt in Auge und Blick. Zwischen Verkrampfung und Herumirren besteht ein starker Kontrast.

Der Moment der Faszination, also eines starkes Angezogenseins von der Schönheit oder von der Süße, kontrastiert mit dem Todesmoment. Mit dem Tod verschwindet die Faszination.

Das erste Terzett beginnt mit der Synthese in einem Bild: „Un éclair … puis la nuit“. Die Plötzlichkeit der Erscheinung wird in den Kontrast von Licht und Dunkelheit, von blitzender Erleuchtung und nachfolgender Blendung, von Leben und Tod gebracht. Himmel und Sturmwind haben sich entladen.

Stellen Sie die Verbformen des Sonetts heraus. Klären sie die Tempusformen, d.h. die Zeitformen der Verben, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bestimmen. Machen Sie sich dann klar, in welcher Abfolge die Handlung abläuft!

Hurlait: l’imparfait, 3. Person Singular
Passa: le passé simple, 3. Person Singular
Buvais: l’imparfait, 1. Person Singular
Germe: le présent, 3. Person Singular
Fascine: le présent, 3. Person Singular
Tue: le présent, 3. Person Singular
Fait renaître: le présent, 3. Person Singular
Verrai: le futur simple, 1. Person Singular
Ignore: le présent, 1. Person Singular
Sais: le présent, 2. Person Singular
Fuis: le présent, 1. Person Singular
Eusse: aimé subjonctif plus-que-parfait, 1. Person Singular

Folgende Zeitstufen können wir uns in Erinnerung rufen:
Présent du subjonctif /Konjunktiv Präsens
Que je sois

Passé du subjonctif / Konjunktiv des Perfekts
Que j’aie été

Imparfait du subjonctif / Konjunktiv des Imperfekts
Que je fusse, fusses, fût, fussions, fussiez, fussent

Plus-que-parfait du subjonctif / Konjunktiv des Plusquamperfekts
Que j’eusse été, eusses, eût, eussions, eussiez, eussent été


Die Verbform ist abhängig von einem imparfait / Imperfekt und beschreibt eine Unmöglichkeit.

Savais: l’imparfait, 2. Person Singular
passante: ein participe présent, hier in der substantivierten Form
assourdissante: wiederum ein Partizip, das hier die Funktion eines Adjektivs (Verbaladjektivs) hat
soulevant: ein participe présent
balançant: ein participe présent
un extravagant: ein participe présent, hier in der substantivierten Form


Die grammatikalische Zeitenabfolge (die consecutio temporum):
Die Zeiten laufen vor einer Hintergrundszeit der Vergangenheit „hurlait“ ab, ein einmalig stattfindendes, abgeschlossenes Ereignismoment „passa“ findet vor diesem Hintergrund statt. Indefinite Tempusformen sind die Partizip Präsenz-Formen (soulevant, balançant), die eine fortlaufende Handlung anzeigen; dazu gehört auch das im Geschlecht angeglichene Verbaladjektiv „assourdissante“. Auch die Frau wird als „passante“, als Passantin, angesprochen, das Sprecher-Ich ist ebenfalls in seiner Bewegung durch ein participe présent („extravagant“) charakterisiert.

Erläutern Sie die räumliche Situation und die zeitlichen Momente der Begegnung!

Vor der Geräuschkulisse der Straße erscheint ein stark visualisiertes Zeichen oder Bild. Man sieht die Passantin zunächst in einer vertikalen Linie. Sie ist groß und schlank. Die Adjektive „longue, mince“ sind vorangestellt und betonen das, was zunächst in die Augen fällt. Dann nimmt man die besondere, wahrscheinlich schwarze Kleidung der Frau wahr. Sie ist in „großer Trauer“, trägt also schwarze Witwenkleidung.
Die Flüchtigkeit des Bildes oder der Bildelemente ist unterstrichen. Denn die erscheinende Frau ist in Bewegung, sie ist eine Vorübergehende, eine Passantin („passa“). Allerdings ist die definite Verbform des passé simple „passa“ / „ging vorüber“ sowohl durch die Gestik der Hand als auch in der Evokation von sich hebenden und wiegendem Rocksaum in einen Schwebezustand versetzt. In den Partizipformen („Soulevant, balançant“) hat die Handlung weder ein zeitliches Ende noch einen zeitlichen Anfang. Besonders in der schwingenden, tanzenden Bewegung erscheint die Frau als Passantin, als Vorübergehende. In ihrem Bewegungsmoment ist sie eine flüchtige Schönheit.

Erklären Sie die Adverbien in Vers 12.

Mit einer Kaskade von Adverbien des Raumes und der Zeit beginnt das zweite Terzett. Raum und Zeit sind verschränkt.
Am Versbeginn stehen zunächst Räume des Anderen und der Ferne: „Ailleurs, bien loin d’ici“. Das fern Liegende wird durch das zweite Wort erklärt und zugleich relativiert.
Es folgen dann Adverbien, die Zeiten der Differenz und potentieller Unmöglichkeit erfassen. Das Vergangene ist unwiederbringbar: „trop tard“. Das folgende Wort ist durch die Kursivsetzung besonders hervorgehoben; „jamais“ meint zunächst eine negative Unendlichkeit, etwas, was nie war und nie sein wird. Allerdings wird die Vorstellung von „niemals“ erstens durch die Kursivsetzung und zweitens durch den nachgeschobenen Zweifel des „peut-être“ in eigenartiger Weise modifiziert.

Formal sind die Quartette von den Terzetten getrennt. Durch welche Elemente wird diese Gliederung auch inhaltlich gestützt?

Die Quartette sind inhaltlich von den Terzetten unterschieden. Mit den Terzetten verschiebt sich die Beschreibung. Jetzt werden nicht mehr Bewegung und Gehmoment evoziert, sondern alles konzentriert sich auf den Blick und schließlich auf die Analyse des Liebesblicks. Die Sprache der Terzette verallgemeinert und führt ins naturhaft Große: in eine Landschaft mit Gewitterbild. Das zweite Terzett beginnt mit der Aufzählung der Adverbien der Zeit und bildet damit eine Reflexion über die Zeit. Die letzten beiden Verse führen die abstrakten Adverbien in einer Verbildlichung über den Raum (die Passantin flieht, der Sprecher geht) weiter.

Inwiefern evoziert das Gedicht einen städtischen Ort der Begegnung? Welche Elemente verweisen auf den Horizont der Stadt?

Die Stadt wird in unserem Sonett nicht beschrieben, sondern lediglich evoziert. Die starke Geräuschkulisse, die Straße („rue“) sowie die Passantin selbst verweisen auf die flüchtige Begegnung in der Großstadt. Der städtische Beobachter erscheint im Sonett nicht als Spaziergänger, als Flaneur. Der Typus des Passanten und der Passantin findet sich in der zeitgenössischen Literatur, z.B. in den Romanen Honoré de Balzacs (1799-1850) und in dessen Stadtbeschreibungen.

Worin wird die Plötzlichkeit, der Augenblick der Liebesbegegnung, besonders anschaulich?

Die Liebesbegegnung evoziert das Sonett als einen flüchtigen Blick. Der Betrachter sieht eine „flüchtige Schönheit“. Er versucht, die Flüchtigkeit als besonderes Phänomen, so wie wir es wahrnehmen können, zu erfassen. Der Sprecher ist von der flüchtigen Schönheit fasziniert und fasst sie in dem plötzlichen Kontrast von Blitz und Nachtdunkel. Der Schock in der Wahrnehmung zeigt sich als plötzlicher Umschlag: von der Süße in den Tod, vom Blitz ins Dunkel der Nacht. 

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