Livre de la Cité des Dames
La Chanson de Roland, texte présenté, traduit et commenté par Jean Dufournet, Paris 2004, Laisse 172, S. 242-243.
Das Buch von der Stadt der Frauen
HIER WIRD DES WEITEREN BERICHTET, WIE JENE VORNEHME FRAU CHRISTINE VON DER STADT ERZÄHLT, DIE DIESE ERRICHTEN SOLL. SIE TEILT IHR FERNER MIT, DASS SIE ENTSANDT WURDE, UM IHR BEI DER ERRICHTUNG DER STADTMAUERN UND DER UMFRIEDUNG BEHILFLICH ZU SEIN; ZU GUTER LETZT NENNT SIE IHREN NAMEN.
Dir, schöne Tochter, wird auf diese Weise vor allen anderen Frauen das Vorrecht zuteil, die Stadt der Frauen zu errichten, und wie aus klaren Brunnen wirst du aus uns drei Frauen frisches Wasser schöpfen, um den Grundstein zu dieser Stadt zu legen und sie zu vollenden. Wir werden dich reichlich mit Baustoff versehen, der fester und haltbarer ist als Marmor und Mörtel zusammen. Deshalb wird deine Stadt von einzigartiger Schönheit und immerwährendem Bestand auf dieser Welt sein.
Hast du denn nicht gelesen, wie der König Tros die große Stadt Troja mit Hilfe von Apollo, Minerva und Neptun, die man damals für Götter hielt, gründete und wie ferner Kadmos auf Geheiß der Götter den Grundstein für die Stadt Theben legte? Trotzdem sind diese Städte im Lauf der Zeit dem Verfall und der Zerstörung anheimgefallen. Ich aber, gleich einer Weissagerin, prophezeie dir, daß die Stadt, die du mit unserer Hilfe gründen wirst, weder Zerstörung noch Verfall erleben wird, vielmehr, all ihren mißgünstigen Feinden zum Trotz, über alle Zeiten hinweg blühen und gedeihen wird. Auch wenn sie manchem Angriff standhalten muß, wird sie doch niemals erobert oder besiegt werden.
In früheren Zeiten, so berichtet die Überlieferung, wurde das Reich der Amazonen auf Geheiß und Bestreben mehrerer großherziger Frauen gegründet, welche die Knechtschaft verachteten. Über einen langen Zeitraum hinweg und unter der Herrschaft verschiedener Königinnen, die edle Frauen waren und von ihnen selbst gewählt wurden, verteidigten sie es. Diese regierten sie mit Klugheit und hielten die Herrschaft mit großer Strenge aufrecht. Aber so mächtig und stark jene auch waren und obgleich sie in der Zeit ihrer Herrschaft einen Großteil des gesamten Orients eroberten und alle Nachbarländer in Schrecken versetzten (sie wurden sogar von den Bewohnern Griechenlands, das damals das erste unter allen Ländern der Welt war, gefürchtet), zerfiel doch am Ende die Macht dieses Königreichs. So kam es — und dies gilt für alle Formen weltlicher Herrschaft — daß heute nur noch der Name überlebt hat.
Aber du wirst mit dieser Stadt, die du zu bauen hast, ein weitaus beständigeres Werk schaffen. Nach unser dreier Ratschluß bin ich damit beauftragt, den Anfang zu machen und dich mit haltbarem, unverfälschten Mörtel zu versehen, damit ein solider Grund gelegt wird; dann um sie herum starke Mauern zu ziehen, hoch, breit, bestückt mit starken Türmen und wehrhaften Kastellen mit Gräben, richtigen Bollwerken, mit eben allem, was zu einer stark und dauerhaft befestigten Stadt gehört. Und auf unser Geheiß wirst du sie tief in den Boden einlassen, damit sie mehr Halt haben, und dann ziehst du die Mauern so hoch, daß sie niemanden zu fürchten brauchen. Tochter, nun habe ich dir die Gründe für unser Kommen enthüllt, und damit du meinen Worten mehr Glauben schenkst, will ich dir jetzt meinen Namen sagen. Sein bloßer Klang wird dir offenbaren, daß du in mir, wenn du meine Anweisungen befolgst, eine Verbündete für dein Werk gefunden hast, die Irrwege unmöglich macht. Ich bin die edle Frau Vernunft; nun überlege, ob du dich in guter Obhut befindest. Mehr sage ich dir vorläufig nicht dazu.«
In: Christine de Pizan, Das Buch von der Stadt der Frauen, aus dem Mittelfranzösischen übersetzt, mit einem Kommentar und einer Einleitung versehen von Margarete Zimmermann, Berlin 21987, S. 43-44.